
GEO EPOCHE
132/2025GEO EPOCHE ist das Geschichtsmagazin von GEO. Jede Ausgabe ist einem historischen Thema gewidmet - Epochen wie dem Mittelalter, Staaten wie Preußen, Weltreligionen wie dem Judentum. Geschichte schillernd und packend ohne Staub, Fußnoten und Zahlenkolonnen. Erzählt werden Geschichten über bedeutende Personen und dramatische Ereignisse, über Alltag und Kultur, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. In genauen historischen Rekonstruktionen sowie opulenten Bildessays und Experteninterviews, mit Karten und Infokästen wird die jeweilige Epoche zum Leben erweckt und vor allem deren Alltag sinnlich nacherzählt. „Wir nehmen die Leser mit auf eine Zeitreise“, so lautet das Credo von Chefredakteur Michael Schaper.
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser Es ist keine neue Erkenntnis, dass Nationen zu einem gewissen Grad Erfindungen sind. Ihre Grenzen sind das Ergebnis von Kriegen und Verhandlungen und nicht naturgegeben, ihre Bevölkerungen multiethnisch, ihre angeblich einheitlichen Kulturen vielstimmig – und ihre Ursprünge mehr oder weniger konstruiert. So bemerkte der französische Gelehrte Ernest Renan bereits 1882: „Das Vergessen oder gar Missverstehen von Geschichte ist ein wesentliches Element bei der Herausbildung einer Nation.“ Keine Nation, so scheint es, kann ohne eigene Geschichtserzählung existieren. Egal, wie alt oder neu sie ist: Eine jede erdenkt sich ihre Historie, wohl um auf Dauer über lebensfähig zu sein. Und in kaum einem Fall ist der Moment der Legendenbildung so klar, ihr Ausmaß so enorm wie bei der Republik Türkei. Gerade in Zeiten, in denen der Nationalismus wiedererstarkt,…
METROPOLE am BOSPORUS
Zwischen GESTERN und MORGEN Kulturell westlich aus gerichtet und modern wünscht sich Atatürk sein Volk. Und auch wenn er die vermeintlich gemeinsamen Ursprünge aller Türken betont und so die Geschichte instrumentalisiert, will er doch die Verbindungen zur osmanischen Vergangenheit Kappen Ein ORT, vollgesogen mit GESCHICHTE Uralt sind die Wurzeln Istanbuls. Über die Jahrtausende trägt die Stadt verschiedene Namen, erlebt römische, byzantinische und schließlich osmanische Herren, bis sie 1923 zur größten Metropole der türkischen Republik wird – wenn auch nicht zu ihrer Kapitale Die ZUKUNFT soll vor allem eines sein: MODERN Atatürk sieht den Westen als Inbegriff des Fortschritts. Er und seine Nachfolger richten die Türkei radikal an den Idealen der europäischen Aufklärung aus, drücken Reformen und Modernisierungen kompromisslos durch – und verändern so das Antlitz des Landes STADT der GEGENSÄTZE…
Vom SULTANAT zur NATION
Die Türkei ist das Werk des Staatsgründers Mustafa Kemal, genannt Atatürk, „Vater der Türken“. Mehr noch: Sie ist seine Erfindung. Eine türkische Nation existiert nicht, bis er 1923 die Republik ausruft. Denn das Land zwischen Schwarzem und Mittelmeer, zwischen Balkan und den Ausläufern des Kaukasus, entsteht aus den Trümmern eines sehr viel größeren und weniger fassbaren Gebildes: des Osmanischen Reiches. Hervorgegangen um 1300 aus einem Kleinfürstentum in West-anatolien, steigt das Reich der Sultane zu einem der mächtigsten Imperien der Geschichte auf, dessen gewaltiges Territorium sich bald über Teile Asiens, Europas und Afrikas erstreckt und dessen Regenten für sich in Anspruch nehmen, Schutzherren und geistliche Führer aller Muslime zu sein. Die herrschende Dynastie der Osmanen entstammt einer der vielen Gruppen in Anatolien, deren Angehörige sich als „Türk“ bezeichnen: Nach fahren von…
TOD EINES RIESEN
Die Çatalca-Befestigungslinie, 40 Kilometer westlich onstantinopel, Ende Januar 1878. In regelmäßigen Abständen reihen sich Bollwerke mit meterdicken Wällen aneinander, Geschützstellungen, gedeckte Infanteriepositionen, bunkerartige Unterkunftsräume, mit Proviant, Munition und Baumaterial gefüllte Lager. Tausende osmanische Soldaten erwarten hier den russischen Angriff. Schnee bedeckt das Land vor ihnen. eit Tagen strömen von Westen Flüchtlinge an in Richtung Konstantinopel, hungrig, verfroren, verzweifelt. Die Verteidiger, an denen sie vorbeihasten, sind die Reste einer einst stolzen Armee, zurückgezogen auf den letzten Abwehrriegel zwischen den unerbittlich vorrückenden Truppen des Zaren und der eigenen Hauptstadt. Untergang liegt in der Luft. Das Ende einer Weltmacht: des Osmanischen Reiches. Ein Dreivierteljahr zäher, opferreicher Kämpfe und kühner Teilsiege – umsonst? Jahrzehnte immer neuer Reformen – vergebens? Und Sultan Abdülhamid II., zugleich Schöngeist und Machtmensch, auf den viele so große Hoffnungen setzen,…
DIE MUTTER DER TÜRKEN
IM LEBEN DER HALIDE EDIP ADIVAR, einer der bedeutendsten türkischen Schriftstellerinnen und Aktivistinnen, gibt es zwei große Unabhängigkeitskämpfe. Den einen führt sie über Jahre an der Seite der Nationalisten, die nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Besatzungsmächte eine selbstbestimmte Türkei erringen wollen. Der andere ist kurz, privat – aber kaum weniger politisch. Es ist die Scheidung von ihrem ersten Ehemann. Halide Edip wächst auf in der Endphase des Osmanischen Reiches, in den vornehmen Kreisen einer patriarchalen Gesellschaft. Ihr Vater ist hoher Beamter am Hof des Sultans und ermöglicht seiner Tochter eine exzellente Bildung. Das Mädchen erhält Hausunterricht und absolviert 1901 als eine der ersten Musliminnen das American College for Girls in Istanbul, eine von US-Amerikanern gegründete Missionsschule. Früh zeigt es einen besonderen Sinn für Sprache und Literatur. Unterdessen kommen die…
DER ÜBERVATER
Der Kriegsheld und Retter des Vaterlands, der Gründer der Republik und ihr erster Präsident, von seinen Verehrern „Genie“, „Erlöser“ und „Wunder der Menschheit“ genannt, steht an einem Septembertag des Jahres 1928 im Freien neben einer Kreidetafel und zeigt sich in einer unerwarteten Rolle: als Oberlehrer. Die kleine Provinzhauptstadt Sinop an der Küste des Schwarzen Meeres, 300 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt Ankara entfernt, ist das erste Ziel einer Reise durch Anatolien, auf deren Etappen das Staatsoberhaupt der Türkei höchstselbst dem einfachen Volk Schreibunterricht geben will. Mustafa Kemal, seit fünf Jahren im Amt und gekleidet in einen eleganten Dreiteiler mit Krawatte und Einstecktuch, bittet nun einen Mann aus der Menge zu sich nach vorn an die Tafel. Ob er schreiben könne, fragt der Präsident. „Nein, Pascha“, antwortet der eingeschüchterte Mann, ein…